Es gibt nur noch wenige Orte in Deutschland, an denen mittelalterliche Traditionen überlebt haben. Einer davon liegt bei Schleswig, zwischen Eckernförde und Flensburg: Die Fischersiedlung Holm. Wer hier am malerischen Ufer der Schlei spazieren geht, spürt immer noch den Geist der alten Zeiten.
Seit dem Mittelalter hat dieser Ort eine Sonderstellung: 1480 hat der nordische König Christian I. den Holmer Fischern einen offiziellen Freibrief ausgestellt, der es ihnen erlaubt, auf dem ganzen Meeresarm zu fischen – prinzipiell gilt dieser noch heute. Die meisten Einwohner haben sich inzwischen zwar neuzeitlichen Tätigkeiten zugewandt, aber es gibt immer noch einzelne Fischer, die mit ihren Kuttern hinaus schippern und ihre Netze wie vor hunderten Jahren an den Ufern zum Trocknen auslegen.
Friedhof anstatt eines Marktplatzes
Aber es ist nicht nur die Fischereitradition, die Holm zu einem Ort mit besonderer Geschichte macht. Der Name Holm bedeutet Insel – die kleine Siedlung war lange Zeit nur über eine Brücke mit der Stadt Schleswig – und dem Rest der Welt – verbunden. Um die frischen Fische zu verkaufen, mussten sie einfach nur auf den dortigen Markt gebracht werden. Deshalb gab es nie den Bedarf für einen eigenen Marktplatz.
Stattdessen blicken fast alle Häuser hier auf eine Kirche – und den Dorffriedhof. Für einen Besucher ist dies ein ungewöhnlicher Anblick: Man kennt Friedhöfe an Stadträndern, hinter Kirchengebäuden, hohen Mauern, oder, versteckt hinter Bäumen am Rande von Parks – und nicht am prominentesten Platz des Ortes.
Die Pest brachte die Totengilde
Aber die Holmer haben eine besondere Trauerkultur. Das hat weniger mit der zentralen Friedhofslage zu tun, als mit den Ereignissen um 1650 herum. Damals wütete eine Pestepidemie in Europa, die auch in Holm ihre Opfer forderte. Da die Verbindung zur Stadt in Zeiten der Seuche gesperrt war, waren die Holmer auf sich allein gestellt – auch was die Beisetzung der Verstorbenen betraf.
Bei solch schweren Epidemien kam es oft vor, dass wegen mangelnden Bestattern und fehlendem Platz Massengräber geschaffen wurden, in denen die Leichen notdürftig verscharrt wurden. Aber nicht so in Holm: Hier erhielt selbst in Zeiten der Pest jeder Verstorbene ein würdiges Begräbnis. Dies war den freiwilligen Helfern zu verdanken, die sich in der „Totengilde der Holmer Beliebung“ zusammengefunden hatten.
Gilden waren im Mittelalter im Prinzip das, was heute Berufsverbände sind. Wer in einem kaufmännischen Beruf tätig war, konnte sich einer entsprechenden Gilde anschließen. So konnte man seine Interessen in einer Gemeinschaft vertreten, und zum Beispiel Handelsverträge aushandeln. Für handwerkliche Berufe gab es die Zünfte, die ähnlich funktionierten.
Ganz in Schwarz – Die Holmer Beliebung
Totengilden in Form von Beliebungen, also Menschen, die sich „nach freiem Belieben“, und nicht etwa aus Zwang, für diese Arbeit meldeten, gab es früher in vielen Orten der Region. Aber nur hier hat sich die Tradition bewahrt. In Holm tragen die Freiwilligen klassisch schwarze Anzüge mit Zylinder und gehen mitunter bei einem Sterbefall von Haus zu Haus, um Sargträger zu organisieren.
Neben den Bestattungstätigkeiten unterstützen sie Angehörige von Verstorbenen mit Hilfe und Beistand. Die Holmer Totengilde kann sogar als Versicherung angesehen werden, denn mit dem Jahresbeitrag wird eine Grabstätte im Ort mitfinanziert. Wer hier aktiv ist, kann sicher sein, dass er nach dem Ableben von seinen Gildenbrüdern unter die Erde gebracht wird.
Das Beliebungsfest zu Ehren der Verstorbenen
Die Holmer Beliebung existiert bis zum heutigen Tag. Auch wenn es für die Fischerei aus der Schlei nur noch wenig Nachfrage gibt und kaum noch Netze ausgeworfen werden – gestorben wird immer. Die Totengilde ist aber mitnichten nur bei Traueranlässen aktiv. Immerhin haben die Brüder sich geschworen „inkünftig beieinander im Leben und Sterben zu stehen“.
Einmal im Jahr veranstaltet die Gilde das Beliebungsfest. Dies ist den Toten gewidmet und gleichzeitig das größte Ereignis in Holm. Die Grabsteine erhalten einen besonders schönen Blumenschmuck und die Straßen werden mit bunten Bannern behangen. Die Gildenmitglieder zeigen sich in ihren schwarzen Anzügen und halten einen speziellen Marsch ab. Im Gleichschritt geht es durch den Ort, angeführt vom „Öllermann“, dem Gildenvorstand. Die Männer marschieren die wenigen Dorfstraßen ab und schreiten durch eine speziell für diesen Anlass gezimmerte Pforte hindurch. Marschmusik begleitet das Fest und die bevorzugte Sprache ist Plattdeutsch.
Der Öllermann wechselt bei jedem Beliebungsfest nach einer vorgegebenen Regelung. So gibt es am Vorstandstisch eine festgelegte Sitzordnung. Wer zur Rechten des alten Öllermanns sitzt, nimmt dessen Platz ein, wird neuer Öllermann und kann für ein Jahr lang mit einem hölzernen Stab „regieren“. Auf der linken Seite kommt ein neues Mitglied an den Tisch und kann nach neun Jahren „weiterrücken“ selber auf den Vorsitz hoffen. Frauen können Mitglieder sein, sind im Vorstand bislang aber nicht berücksichtigt, die Beliebung ist ein fast reiner Männerclub.
Beim Tanzen sind aber alle gleichberechtigt: Das Beliebungsfest hat auch einen Festball, bei dem alte traditionelle Tänze an junge Generationen weitergegeben werden. Manche Traditionen sterben scheinbar nie.
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