Dutzende LKW in Reih und Glied, ein Güterzug, der in der prallen Sonne steht – am südlichen Stadtrand von Wien, wo ein Logistikzentrum an die Donau grenzt und lauter Maschinenlärm die Stille durchbricht, verrät nur ein einfacher brauner Wegweiser, dass sich da etwas hinter dem hochsommerlich dichten Blätterkleid versteckt. Das unscheinbare Fußgängerschild führt jene, die trotz des weiten Weges aus dem Stadtzentrum hierherkommen, zu einer kleinen Ruhestätte mit schlicht verzierten Gräbern: dem Friedhof der Namenlosen.
Am nahe gelegenen Flussufer, wo die Donau heute gemächlich fließt, wurden einst neben Treibgut auch Körper von Ertrunkenen angeschwemmt. Menschen, die bei Bauarbeiten in die Fluten stürzten, ihrem Leben selbst ein Ende setzten oder Opfer anderer wurden – als Wasserleichen konnten sie nicht mehr identifiziert werden, starben unbekannt, namenlos. Ihnen zu Ehren entstand im Jahre 1840 am Stromkilometer 1.918 ein erster kleiner Friedhof. Bis zur Jahrhundertwende waren es bereits 478 Menschen, die dort begraben wurden – doch das Wasser ließ ihnen auch nach der letzten Ruhe keinen Frieden, immer wieder wurde die Gedenkstätte überschwemmt.
Freiwillige Helfer entschlossen sich daraufhin, einen zweiten Friedhof einige Meter weiter zu errichten, in sicherem Abstand zum zerstörerischen Wasser. Eine Umfassungsmauer bot ab 1935 zusätzlichen Schutz, und tut es bis heute. 100 Tote liegen hier begraben. Nicht alle Gräber tragen nur das schlichte Kreuz, manche sind mit Namensschildern versehen; Namen von lang Vermissten oder Menschen, von denen man wusste, dass sie in den Fluten der Donau ihr Leben verloren: „Karl Leeb, B.R.D., ertrunken beim Bau des Hafens, 16.8.1939“, „Ladislaus Kampf, Bäckergeselle“. Neue Gräber kommen hingegen schon lange nicht mehr hinzu – als die Gemeinde Albern 1938 zu einem Teil von Hitlers Groß-Wien wurde, begann man damit, unbekannte Leichen nur noch auf dem Zentralfriedhof zu bestatten. Auch am Stromkilometer 1918 werden heute keine Wasserleichen mehr angeschwemmt; der Bau von Getreidesilos am Alberner Hafen veränderte die Strömung der Donau.
Heute liegt der Friedhof der Namenlosen in Simmering, dem 11. Wiener Gemeindebezirk. Die kleine Ruhestätte grenzt an ein Logistikzentrum, doch wer annimmt, dass es nur Lastenfahrer und Mitglieder des nebenan gelegenen Fischereivereins hierher verschlägt, der liegt falsch. Den Simmeringern ist „ihr“ Friedhof der Namenlosen ans Herz gewachsen – ganz besonders der Familie Fuchs. Eine Gedenktafel an der für Wien so ungewöhnlich prunklosen Auferstehungskapelle erinnert an Josef Fuchs Senior, der sich hier über 60 Jahre lang um die Grab- und Gartenpflege kümmerte und dafür 1991 mit dem Goldenen Verdienstzeichen der Stadt ausgezeichnet wurde. Nach Fuchs Tod übernahm sein Sohn, heute kümmert sich in bereits dritter Generation sein Enkel um die Friedhofspflege.
Aber nicht nur Josef Fuchs kümmert sich um die schlichte Ruhestätte abseits der Touristenpfade. Obwohl seit über einem halben Jahrhundert kein Mensch mehr hier begraben wurde, zieren bisweilen frische Blumen und Kränze die Gräber: Die Österreichischen Bundesgärten spenden jedes Jahr im Dezember Weihnachtskränze und die nahe Berufsschule für Gartenbau und Floristik lässt Prüfungsarbeiten ihrer Lehrlinge nach der Benotung hierherbringen. Ab und an kommen sogar Schulkinder und schmücken die Gräber. Ein ganz besonderes Ereignis ist auch dem Fischereiverein Albern zu verdanken: Seit Jahrzehnten schon bauen seine Mitglieder an jedem ersten Sonntag nach Allerseelen ein Floß, das sie üppig schmücken und mit einer Inschrift versehen, bevor sie es dem hier mittlerweile so ruhig fließenden Fluss hingeben: „Den Opfern der Donau“.
Fotos: Maresa Mayer
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