Ein kurzer Blick in die Geschichte der Binsenweisheiten

Als der römische Soldat und Hauslehrer Lucius an einem ruhigen Spätsommerabend des Jahres 52 v. Chr. im Lager vor Alesia seine ersten „VII Verse für eine bessere Zeiteinteilung“ verfasste, konnte er noch nicht wissen, was für eine Welle er damit lostrat. Zweitausend Jahre später überfluten uns Optimierungsberater und Zeitmanagement-Profis mit im Schnitt 10 bis 15 Tipps pro Liste, die uns alle zu Millionären und besseren Menschen machen. Wir müssen sie nur befolgen.

Tatsächlich: Das Prinzip der Binsenweisheit, der Erkenntnis ohne besonderen Wert, war schon den Römern bekannt. „Nodum in scirpo quaerere,“ (lateinisch) bedeutet, „den Stengelknoten auch an der Binse (am Grashalm) suchen“.

Geweckte Erwartungshaltungen

Es gibt unzählige Binsenweisheiten: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“, „nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun“, „kommt Zeit, kommt Rat“ und so weiter. Mit zunehmendem Alter lässt bei vielen allerdings der Spott darüber nach. Jeder von uns kann sich bestimmt an eine Situation erinnern, in der zum Beispiel ein Spruch wie „Morgen ist auch noch ein Tag“ plötzlich eine Spannung oder eine Krise zumindest kurzfristig beruhigen konnte. Im Zweifel lag das aber weniger daran, dass uns diese Erkenntnis bis dato unbekannt war, sondern dass dieser Satz genau im richtigen Moment kam. Er brachte uns dazu, eine neue Perspektive einzunehmen.

Kalender für Zeitplanung

Leider wird dieses Potenzial von entsprechenden Überschriften wie „Mit diesen Tipps wirst du zum Millionär“ oder „Zeitmanagement im Office: 13 simple Tipps für den alltäglichen Büro-Wahnsinn“ ad absurdum geführt. Und nein, sie sind in der Regel auch nicht ironisch gemeint. Solche Ankündigungen wecken Erwartungshaltungen, die niemals erfüllt werden können.

Klassische Tipps zum Zeitmanagement

Eine Liste mit Tipps ist keine Methode. Es gibt viele Methoden zum Zeitmanagement, etwa: 10-10-10, 660-60-30, High Value Activities, die 25’000 Dollar-Methode, die Not-to-do-Liste, die One Minute To-Do-Liste, das Pareto-Prinzip, die ALPEN-Methode, die ABC-Methode und so weiter. Eine ausführliche Auflistung mit qualitativer Einordnung würde hier den Rahmen sprengen. Deswegen nehmen wir uns einige der aus unserer Sicht häufigsten Tipps vor und klopfen sie auf ihren Gehalt ab. Dabei denken wir vornehmlich an Selbstständige, Freiberufler, Menschen im Homeoffice und solche, die sich auch im Rahmen von Festanstellungen ihre Zeiten zum Teil selbstständig einteilen können.

Setze Dir Ziele

Wer arbeitet heute nicht mit bestimmten Zielen? Nein, so einfach ist das natürlich nicht. Dahinter steht, die eigenen Aufgaben im Hinblick auf die vorhandene Zeit und die eigenen Ressourcen zu überprüfen. Zudem werden uns ja auch vordefinierte Ziele gesetzt – von Auftraggebern, Vorgesetzten, dem Team, Kunden und so weiter.

Es geht auch nicht einfach nur darum, zu bestimmten Uhrzeiten etwas abgeschlossen zu haben. Es gibt beispielsweise auch qualitative Ziele. Vielleicht kann man einem Kunden bis zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas fertigstellen. Aber reicht die Zeit, um auch meine eigenen Qualitätsstandards zu erfüllen?

Mache einen Plan

Denken wir hier einmal nicht an das Offensichtliche, etwa Konstruktionspläne, Versandpläne, Redaktionspläne, Personalpläne und so weiter. An diesem Tipp scheint erstmal nichts verkehrt. Der eine arbeitet mit Stift und Zettel, der andere nutzt eine App, der Dritte hat ein Programm, mit dem er seine Aufträge und Zeiten strukturiert.

Der Haken liegt woanders. 2020 besitzen vier von fünf Deutschen mindestens ein Smartphone – Tendenz steigend. Das bringt viele in eine Situation der permanenten Erreichbarkeit. Das wiederum bedeutet, Vorhaben lassen sich jederzeit kurzfristig ändern und es wird erwartet, dass wir genauso kurzfristig reagieren. Lassen wir uns genügend Freiraum für kurzfristige Fragen und Änderungen oder müssen wir dann sofort alles umplanen? Auch das kann einen erheblichen Zeitaufwand bedeuten.

Hinter Tipps wie einer To-Do-Liste steht die Fähigkeit, abschätzen zu können, was man bis wann in welcher Qualität und unter Einbeziehung alltäglicher „Störfaktoren“ leisten kann. Eine realistische Einschätzung bringt Erfolgserlebnisse mit sich, eine regelmäßig zu optimistische lässt schnell Frust aufkommen.

Außerdem kann man darin eine Hilfe sehen, sich zwischendurch auf Einzelheiten zu konzentrieren, ohne befürchten zu müssen, den gesamten Auftrag dadurch aus den Augen zu verlieren. Und zuletzt ist es in der Zusammenarbeit mit Kollegen und Kunden sehr hilfreich, mögliche Verzögerungen rechtzeitig zu erkennen und Pläne gemeinsam anzupassen.

Salamitaktik: zerlegen und nacheinander abarbeiten

Tipps dieser Art stehen in enger Verbindung zu To-Do-Listen. Und auch hierbei handelt es sich um Tipps, mit denen sich Berater schon vor 30 oder 40 Jahren ein hohes Renommee aufzubauen versuchten. Doch gerade in den letzten 15 Jahren hat sich einiges grundsätzlich verändert.

Besonders in Bezug auf komplexe Planungen und Aufgaben hat die digitale Wirtschaft in den letzten Jahren viel geleistet. Moderne Datenverarbeitung ist ohne sie nicht mehr möglich. Allerdings nimmt uns die entsprechende Software nur ausführende Prozess ab. Ihre Programmierung, ihr Einsatz, das sinnvolle und zielorientierte Füttern mit Daten erfordert ein viel höheres Maß an Multitasking-Fähigkeiten als früher. Denken Sie zum Beispiel an den Onlinehandel. Was nützen all die erhobenen Kundendaten, wenn sie niemand zu nutzen versteht? Das betrifft aber nicht nur das gehobene Management, sondern streng genommen jeden, der heute mit einem Computer arbeitet.

In beruflichen Alltag vieler Bereiche wird sowohl Multi-Tasking als auch Monotasking erwartet. Die oben genannten Tipps können heute nur noch als einzelne Aspekte im beruflichen Alltag verstanden werden. Inwieweit sie hilfreich sind – das kann nur jeder für sich entscheiden. Vielleicht animieren sie dazu, gezielt über eigene Stärken und Schwächen in der Selbstorganisation nachzudenken. Das wäre sicher sinnvoll.

Es soll keine „tote Zeit“ geben

Zugegeben, diesen Tipp haben wir so oder abgewandelt nicht oft gesehen. Aber er erscheint fragwürdig genug, um ihn anzusprechen. Er ist verbunden mit der Aufforderung, möglichst viele Zeitfenster konstruktiv zu nutzen, auch solche, die man traditionell noch nicht verinnerlicht hat. Dahinter steht natürlich auch wieder digitale Technologie, besonders Laptops und Tablet-PCs.

Viele Arbeiten sind nicht mehr an einen festen Standort, ein Büro mit Schreibtisch gebunden. Man denke unter anderem an die vielen Zugreisenden, die während der Fahrt am Rechner arbeiten.
Fragwürdig wird es allerdings, wenn man etwa bei Fahrtzeiten oder einem Mittagsspaziergang von „toter Zeit“ spricht. Jeder hat einen anderen Arbeitsrhythmus und jeder braucht andere Pausen. Nicht wenige Menschen bezahlen mittlerweile viel Geld, um zu lernen, einfach mal eine Stunde ruhig dazusitzen und nichts zu machen.

Wir raten: Vergessen Sie solche Tipps. Bei guter Planung und der Fähigkeit, die eigene Arbeitsleistung gut einschätzen zu können, stellt sich die Frage nach „toter Zeit“ sowieso nicht mehr.

Setze klare Prioritäten

Dieser Tipp hat ein Abonnement für so ziemlich jede Liste über Selbstoptimierung und Zeitmanagement. Hierzu passt übrigens gut die ABC-Methode. Ein griffiger und professionell klingender Name für das Prinzip, seine Aufgaben einfach nur in drei Prioritätsstufen zu unterteilen. A bedeutet Priorität hoch! Sollte man unverzüglich angehen. B und C stehen für nachgeordnet wichtig eingeschätzte Tätigkeiten, die man vielleicht auch an andere delegieren kann. Man könnte sie alternativ auch die 123-Methode, die Gold-Silber-Bronze-Methode, die Heiß-Warm-Kalt-Methode oder die dreistufige Prioritäten-Methode nennen.

Das Setzen von Prioritäten bei der Arbeit macht selbstverständlich Sinn. Wo nicht? Dabei geht es nicht nur um einzelne Arbeitsschritte, sondern eventuell auch um die Frage, ob man die vorgegebene Zeit des Kunden einhält, ihm aber auch klarmacht, dass die Qualität der Arbeit darunter etwas leiden könnte. Besonders in Corona-Zeiten sind unter anderem im Homeoffice arbeitende Eltern gefragt, jeden Tag Prioritäten zu setzen und vielleicht neuen Situationen anzupassen. Kleinere Kinder werden sich nicht widerspruchslos in den Arbeitsplan der Eltern integrieren lassen und sich an genaue Zeiten für Hunger, Spielen oder den Toilettengang halten.

Workflow im Blick behalten

Diesen Tipp haben wir nicht so häufig angetroffen, aber gerade er erscheint uns wichtig. Fast alle Menschen, auch Freiberufler, arbeiten im Verbund mit anderen – Kollegen, Kooperationspartnern, Kunden, Sub-Dienstleistern und mehr. In immer mehr Berufen gilt es als Schlüsselqualifikation, eigenverantwortlich planen und Koordinieren zu können. Die Komplexität moderner Arbeitswelten zeigt sich beispielsweise in der Automobilindustrie. Natürlich gibt es dort auch übergeordnete Manager, Team-Manager, deren Hauptaufgabe in der Überwachung von Projekten liegt. Besonders amerikanische Unternehmen aus dieser Branche haben nicht selten ganze Abteilungen, deren einzige Aufgabe darin besteht, Team- und Projektmanager bei der Koordination zwischen Lieferanten, Test-Labors, Designern, dem Einkauf und Ingenieuren zu unterstützen und alle Lieferungs- und Logistik-Prozesse zu managen.

Arbeitsprozesse können heute auf allen Ebenen und durch das Potenzial digitaler Technologien deutlich komplexer strukturiert sein. Dadurch werden sie zu einem immer wichtigeren Zeitfaktor, den man immer parat haben sollte. Beispielsweise auch dann, wenn man als Selbständiger für sich bestimmte Prozesse definiert hat, ein Kunde aber möchte, dass man seine Prozesse, seine Software und seine Prioritäten übernimmt. Immer mehr Möglichkeiten schaffen immer mehr Unterschiede und damit auch immer mehr Konfliktpotenzial.

Empfehlung

Menschen in unseren Breitengraden haben eine Affinität zu Listen und Regeln, die ihnen sagen, was zu tun und zu lassen ist. Das entlässt sie scheinbar aus der Verantwortung, selber planen und reflektieren zu müssen. Andererseits vermitteln Listen auch Sicherheit und können helfen, sich zu organisieren. Allerdings ist die ungebrochene Schwemme an so trivial formulierten Tipps oft unglaublich oberflächlich, inhaltlich veraltet und dann vor allem überflüssig. Neudeutsch: Spam.

Sie machen nur Sinn, wenn man sie als Inspiration, als Metaphern oder als kurze Erinnerungen (wie in einem Kalender) versteht. Sie nehmen einem nicht die Verantwortung und nicht das Denken und Handeln ab.

Andere haben auch gelesen