Jeder von uns kennt das Gefühl, wenn er einen Niesanfall bekommt oder wenn er Schluckauf hat. Es überfällt einen meist in den unpassendsten Momenten und man kann nur wenig bis gar nichts dagegen ausrichten.
Wie nervenaufreibend muss es erst sein, wenn einem das mit weniger „harmlosen“ Dingen passiert? Wenn man den Zwang hat zu hüpfen, Grimassen zu schneiden, wüste Beschimpfungen auszustoßen oder obszöne Bewegungen zu vollführen?
Denn darauf reagiert die Umwelt und das soziale Umfeld dann schon deutlich weniger gelassen und verständnisvoll. Hier fallen sofort Begriffe wie „nicht unter Kontrolle“, „schlechte Erziehung“, oder „asozial“.
Umso betrüblicher, da einige dieser „Rebellen“ das durchaus nicht aus den oben genannten Gründen machen, sondern weil sie schlichtweg an einer Krankheit leiden, die sie dazu zwingt, Dinge dieser Art auszuführen.
Diese Krankheit – das Tourette-Syndrom – ist vielen von uns auch eigentlich schon ein Begriff, aber in Momenten wie diesen denkt oder glaubt kaum einer daran.
Was ist das Tourette-Syndrom und woran erkennt man es?
Beim sogenannten Gilles-de-la-Tourette Syndrom kommt den meisten von uns direkt das Symptom der Koprolalie in den Sinn, also das Ausstoßen von (obszönen) Schimpfworten. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Medien sich in ihrer Darstellung meist auf diese eine Ausprägung beschränken.
Warum es gerade zur Koprolalie kommt, konnten Mediziner bisher noch nicht herausfinden.
Tatsächlich leiden aber nur etwa 30% aller Betroffenen daran, was übrigens auch in Folge einer Hirnhautentzündung oder eines Hirntumors auftreten kann. Der Rest von ihnen leidet an sonstigen motorischen oder vokalen Tics.
Tics ist übrigens der Fachbegriff für die Zwänge, die die Erkrankten ausüben müssen. Er kommt ursprünglich aus dem Französischen und bedeutet so viel wie „nervöses Zucken“.
Diese Zwänge sind unwillkürlicher Natur, erfolgen rasch und plötzlich und treten immer wieder in gleicher Weise einzeln oder serienartig auf.
Unter die motorischen Tics fallen zum Beispiel Augenblinzeln, Kopfrucken, Schulterzucken oder Grimassieren. Leidet man unter einer komplexeren motorischen Form, so kommt es zu Sprüngen, Körperverdrehungen, dem Ausführen obszöner Bewegungen, zwanghaftem Berühren von Personen oder Gegenständen, bis hin zu selbstverletzendem Verhalten.
Betroffene mit vokalen Tics müssen fiepen, schnalzen, grunzen oder räuspern. Leiden sie auch hier unter der komplexeren Form, dann schleudern sie immer wieder Worte oder kurze Sätze aus, wiederholen Laute oder Wortfetzen, die sie gerade gehört (Echolalie) oder selbst gesprochen (Palilalie) haben.
Beschrieben wurde das Syndrom erstmals im Jahre 1825 als eine adelige Dame eine Auswahl der beschriebenen Tics zeigte und man zunächst keine Erklärung dafür fand. Dr. Georges Gille de la Tourette war seinerseits ihr behandelnder Nerven-Arzt und brachte seine Beobachtungen dann zu Papier. Die Zwänge treten periodisch auf, das heißt sie wechseln sich hinsichtlich Art und Häufigkeit Ihres Auftretens ab. Mal wird man mehrmals täglich heimgesucht, mal hat man über mehrere Monate Ruhe, bis man dann von einem neuen Tic überrascht wird.
Zudem hat das persönliche Befinden erheblichen Einfluss auf die Ausbrüche. Ist der Patient konzentriert und entspannt, werden die Tics weniger und schwächer, ist er dagegen gestresst und aufgeregt nehmen sie deutlich zu.
Wie erkrankt man am Tourette-Sydrom (TS)?
TS tritt bei ca. 1 Prozent aller Kinder zwischen dem 7. Und 8. Lebensjahr aber immer vor dem 21. Lebensjahr auf. Bei Jungen tritt es 3-4 Mal häufiger auf als bei Mädchen. Zwischen dem 10.-12. Lebensjahr erreichen die Beschwerden dann einen regelrechten Höchststand.
Viele haben Glück und werden ihre Tics nach und nach wieder los, andere sind ein Leben lang davon betroffen.
Die wahre Ursache von Tourette konnte bis dato nicht abschließend erforscht werden. Fest steht aber, dass es größtenteils erblich veranlagt ist und die Wahrscheinlichkeit daran zu erkranken zehn bis hundertmal höher ist, wenn es bereits einen Fall in der engeren Verwandtschaft gibt. Zu den Risikofaktoren gehören Dinge wie Rauchen, Stress in der Schwangerschaft, Frühgeburt, Sauerstoffmangel oder aber auch eine Streptokokken-Infektion.
Ähnlich wie beim „Restless Legs Snydrom“, kommt es beim TS zu einer Störung in der Weiterleitung des Neutrotransmitters „Dopamin“, der dafür zuständig ist, dass bestimmte Informationen übertragen werden.
Forschungen haben ergeben, dass die Anzahl der Dopamin Rezeptoren bei Tourette-Patienten deutlich höher ist, als bei gesunden Menschen. Mittlerweile gibt es aber auch zahlreiche Hinweise, dass es auch Störungen anderer Stoffe im Gehirn gibt, die eine Art Filterfunktion übernehmen und normalerweise Impulse und Handlungen des Menschen regulieren. Fehlt dieser Filter, kann die Person sich gegen gewisse Impulse nicht mehr zur Wehr setzen.
Interessant ist auch, dass sich im Laufe der Erkrankung gewisse Vorboten ausbilden. Der Erkrankte wird also nicht mehr ganz unwillkürlich von einem Tic überfallen, sondern spürt beispielsweise unmittelbar davor einen unangenehmen Nackenschmerz oder ein Kribbeln.
Wie therapiert man das Tourette-Syndrom?
Eines vorneweg: Die Krankheit ist nicht heilbar, aber mit bestimmten Medikamenten und Therapien lassen sich Symptome regulieren, hemmen oder umlenken.
Leidet der Patient nur unter einer schwachen Ausprägung seiner Tics, wie zum Beispiel einem ständigen Räuspern oder Blinzeln, so kann es mitunter auch ausreichen, wenn sein Umfeld ausreichend aufgeklärt ist und ihn aufgrund seiner Zwänge nicht auslacht oder ärgert.
Einige Erkrankte können auch lernen ihre Tics zeitlich hinauszuzögern. Zwar müssen sie sie irgendwann ausleben, aber sie können sie tagsüber in der Schule oder Arbeit unterdrücken und ihnen erst am Abend freien Lauf lassen, wenn sie im gewohnten persönlichen Umfeld sind.
Entspannungstechniken, Verhaltens- oder Psychotherapien können zusätzlich für Linderung sorgen bzw. helfen, mit der Krankheit zu leben.
Wie lebt man mit dem Tourette-Syndrom?
Im Laufe der letzten Jahre hat die Aufklärung in Sachen Tourette einiges an Aufschwung erfahren und wird auch deutlich häufiger in Filmen oder anderen Medien thematisiert und aufgegriffen. Auch auf Social Media hat diese Krankheit regelrechten Ruhm erlangt.
Die beiden Freunde Jan Zimmermann und Tim Lehmann haben sich über ihren YouTube Kanal „Gewitter im Kopf“ eine riesige Community von über 2 Millionen Abonnenten aufgebaut und klären diese in ihren Videos und Postings über die Krankheit von Jan auf, die er „Gisela“ getauft hat. Gisela begleitet Jan durch seinen Alltag und der Zuschauer kann live miterleben, was sie alles mit ihm anstellt und wie sie sich in verschiedenen Situationen verhält.
Geduldig beantworten sie immer wieder die neugierigen und wissbegierigen Fragen ihrer Zuschauer und haben so dazu beigetragen, dass die Gesellschaft deutlich offener gegenüber Tourette-Patienten ist. Im Dezember letzten Jahres veröffentlichten die zwei in diesem Kontext sogar eine gemeinsame Single „Zeig dein Gesicht“.
Allerdings gibt es auch zahlreiche kritische Stimmen von Interessensverbänden, die den beiden vorwerfen, die Krankheit und die Symptome ins Lächerliche zu ziehen und den Betroffenen ihre Würde zu nehmen.
Ob das der Fall ist, oder ob die beiden einfach zeigen, dass es okay ist, anders zu sein und dieser Krankheit mit Humor zu begegnen, sollte jeder für sich selbst entscheiden.
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