Kurz vorab zur Begrifflichkeit: Wir schreiben hier von Behinderten im Sinne von: Menschen mit Behinderung. Viele verwenden unter anderem den Begriff „Handicap“. Die WHO hat ihn aus ihrem offiziellen Sprachgebrauch gestrichen. Im englischen Sprachraum kommt er einer Beleidigung gleich, weil es unterwürfig bedeutet.
Mit konkreten Beispielen möchten wir Aufmerksamkeit auf das Familienleben mit einem behinderten Kind und seine besonderen Herausforderungen lenken, auch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie.
Normal ist: Nicht weggucken
Ein normaler Umgang ist für viele Familien mit einem behinderten Kind ein zweischneidiges Schwert. Denn ihr Leben ist nicht „normal“. Ihr Alltag ist ein sehr komplexes Gebilde aus vielen, sehr präzise aufeinander abgestimmten Maßnahmen. Normalität bedeutet für viele ein Zusammenleben, das auf die besonderen Bedürfnisse des Kindes abgestimmt ist. Normal sollte dabei für alle anderen vor allem eines nicht sein: Wegsehen.
Familienexperten bestätigen, dass sich viele solcher Eltern in der öffentlichen und behördlichen Wahrnehmung ungesehen und übergangen fühlen. Dabei übernehmen sie nicht nur die Betreuung, sondern überwiegend auch die Pflege und Förderung ihrer Kinder.
Kerstin (44) ist alleinerziehende Mutter zweier Kinder. Matteo (8) hat infantile Zerebralparese. Seine Extremitäten sind spastisch gelähmt, die gesamte Motorik ist gestört. In einem Interview Ende Mai 2020 sagte sie: „Am Anfang war die Reaktion von außen schwierig für mich und ich habe im engeren Freundeskreis erlebt, dass Fragen nicht gefragt wurden. Mein Wunsch wäre es daher, nicht wegzugucken, natürlich auch nicht zu starren, sondern lieber eine Frage zu stellen.“
Der Alltag wird zum Härtefall
Wenn man als Unbeteiligter Berichte von Eltern hört oder liest, dauert es meist nicht lange, bis man zu einem Punkt kommt, bei dem man sich fragt: Wie kann man das nur bewältigen?
Kerstin beschrieb, dass Matteo in der Phase, in der andere Kinder anfingen zu sitzen und zu krabbeln, auf dem Arm bleiben musste und schrie – drei Jahre lang und im Schnitt acht bis zehn Stunden am Tag.
Levi (eineinhalb) hatte als Neugeborener eine Gehirnblutung und infolgedessen ein nicht mehr funktionstüchtiges Motorikzentrum. Jede ausgeprägte Emotion, egal welcher Art, verursacht bei ihm heftige Spasmen, die nur gelöst werden können, wenn er von den Eltern auf den Arm genommen wird. Und das muss er nach deren Angaben etwa zu 90 Prozent des Tages.
Ein typischer Tag mit Matteo
Was vielen Menschen unvorstellbar erscheint, nimmt in den Beschreibungen der Eltern meist nur wenig Platz ein. Wir möchten einige aktuelle Beispiele zeigen und beginnen mit einem typischen Tagesablauf bei der bereits erwähnten Kerstin, Sohn Matteo und seiner nicht behinderten Schwester Mathilda (10).
- 5.00 Uhr in der Früh: Mutter Kerstin steht auf und bereitet Frühstück sowie Butterbrotdosen für die Kinder vor.
- Danach wird Matteo vom Fahrdienst abgeholt. Erst schulische Betreuung, dann Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie. Mathilda könnte längst auch alleine zur Schule fahren. Aber es ist die einzige Zeit des Tages, in der Mutter und Tochter zu zweit und ungestört sind. Deshalb wird sie verlängert, indem Kerstin Mathilda weiterhin zur Schule fährt.
- Bis zum späten Nachmittag werden Fulltime-Job, Einkäufe und der Haushalt abgearbeitet. Danach holt die Mutter beide Kinder wieder ab. Abendessen und ins Bett bringen dauert in der Regel bis 21.00 oder 22.00 Uhr. Vorher schläft Matteo nicht ein.
Matteo kann mittlerweile sprechen. Es begann mit „ja“ und „nein“. Mittlerweile sind es schon Zwei-Wort-Sätze wie „Matteo kalt“ oder „Matteo Hunger“, die eine verbale Kommunikation erlauben. Gelernt hat er sie bei einer Delphin-Therapie, die aus privaten Spenden finanziert werden musste. Kerstin bringt die Bedeutung dieser Erfahrung auf einen Punkt: „Dort wurde ihm die Sprache geschenkt.“
Für eigene Freunde und Bekannte bleibt so gut wie keine Zeit. Nach einer Weile begann Kerstin sich „kleine Oasen“ zu erschaffen, um auch mal ein bisschen Zeit für sich selbst zu haben. Flexible Arbeitszeiten und Wochenendarbeit machen das möglich. So kann sie mal ausgiebig frühstücken, mittags ins Kino oder morgens ins Museum gehen.
Stillstand bedeutet Rückschritt
Drei weitere Beispiele nach Beginn der Pandemie ergänzen einen Umriss um die gerade für solche Familien durch Corona nochmal deutlich erschwerte Lage. Die Namen wurden im Original geändert.
Steffen (14) hat das Downsyndrom und besucht die Förderschule. Die Eltern arbeiten beide in der Logistikbranche – Homeoffice unmöglich. Ihren Jahresurlaub haben beide für Steffen schon im Mai genommen. Vor allem die Zeit als Schulbesuch und einmal die Woche Fußballtraining ausgeschlossen waren, machte den Eltern Sorgen. Die Sprache verschlechterte sich. Stillstand in der persönlichen therapeutischen Arbeit und verminderte soziale Kontakte bedeuten Rückschritte. Die Großeltern halfen natürlich, aber sie gehören mit über 80 auch zur Risikogruppe. Immerhin wurde erreicht, dass Steffen zweimal pro Woche vormittags in die Notbetreuung kann. Eine Maske zu tragen ließ sich spielerisch einüben und es „klappt einigermaßen gut“. An regelmäßiges Händewaschen und Abstand halten müssen sie ihn aber immer wieder neu erinnern. Der Vater hat einen verständnisvollen Chef und darf seinen Sohn ab und zu vormittags im LKW mitnehmen.
Felix (14) ist ein Junge mit körperlicher und geistiger Behinderung, der selbst zur Corona-Risikogruppe gehört. Normalerweise besucht er die Förderschule, und lernt gerade Buchstaben und Zahlen nachzumalen. Auch wenn seine Mutter nicht berufstätig ist – der Vater ist dafür teilweise wochenlang dienstlich unterwegs – gibt es noch einen Haushalt und zwei weitere Kinder. Zur Zeit des durchgehenden Homeschoolings musste seine Mutter von morgens bis abends an seiner Seite sein. Wie viele andere Kinder mit Behinderung fehlen Felix besonders jahrelang etablierte Routinen. Am sozialen Leben kann er derzeit nicht ohne Weiteres teilnehmen, denn sowohl eine Maske tragen als etwa auch in die Armbeuge zu niesen, ist für ihn unmöglich. Dennoch sei Felix selbständiger geworden. Er steht alleine auf und geht duschen. „Das klingt banal, ist für ihn aber ein großer Fortschritt.“
Mari (6) hat einen Gendefekt, der in der Praxis bedeutet, dass sie die Kraft einer Sechsjährigen hat, aber geistig auf dem Stand eines zehn Monate alten Kindes ist. Sie braucht Betreuung rund um die Uhr. Und etwas Zeit muss für ihre drei Geschwister auch noch bleiben. Im Kindergarten stand Mari vorher eine eigene Betreuungsperson zur Verfügung, die während des ersten teilweisen Lockdowns auch anbot, nach Hause zu kommen. Das lehnten die Behörden jedoch mit Verweis auf Abstandsregeln ab. So gab es für Mari keine Betreuung und auch keine Förderung mehr, vor allem Ergo- und Logopädie. Die Folgen stellten sich schnell ein. Konnte sie vor der Krise schon alleine essen, muss sie schon wenige Wochen später wieder gefüttert werden. Maris Mutter hatte sich für Betreuungshilfen an die Behörden gewandt und wurde letztlich nur zwischen Jugendamt, Sozialamt und Landschaftsverband (Rheinland) ergebnislos hin- und hergeschickt.
Forderungen als Spiegel der Zustände
Aktuelle Forderungen von Sozialverbänden und -Behörden weisen auf Missstände im Umgang mit Menschen mit Behinderung hin, gerade in der aktuellen Pandemie.
Zwei Beispiele:
- Ende September 2020 fand das digital veranstaltete Jahrestreffen der kommunalen Behindertenbeauftragten mit dem Landesbehindertenbeauftragten Bayern statt. Ihr Forderungskatalog an die Landesregierung enthält unter anderem allein schon die Anerkennung der Tatsache, dass Distanzunterricht für nicht wenige Kinder mit Behinderung nicht gewährleistet werden kann.
- Auch nach sechs Monaten scheint es seitens Kommunen und Medien noch nicht gelungen zu sein, zumindest die für die Pandemie wichtigsten Informationen auch in Gebärdensprache und leichte Sprache übersetzen zu lassen.
Weiche Knie bekommt man bei Hinweisen wie diesem: „Um den Betreuungsaufwand zu minimieren, sind viele Menschen mit kognitiven Einschränkungen während der Krise in den Kliniken sediert worden. Dieses Vorgehen ist eine Missachtung der Menschenrechte. Wir stehen für eine Unterstützung und einen weiteren Dialog gerne bereit.“
Der Sozialverband VDK Deutschland stellte schon Anfang April fest: „Menschen mit Behinderungen sind in allen Altersstufen besonders von den Maßnahmen zur Corona-Eindämmung betroffen. Ihre Versorgung ist nicht gesichert. Gleichzeitig sind viele von ihnen besonders gefährdet, weil sie parallel noch eine chronische Erkrankung oder ein geschwächtes Immunsystem haben. Es fehlt an Schutzausrüstung und an Mitarbeitern, um die Versorgung sicherzustellen, sowohl in den Wohneinrichtungen als auch im ambulanten Bereich. Viele Menschen mit Behinderung sind auf kontinuierliche Behandlung durch Physio- oder Ergotherapeuten angewiesen, damit sich ihr Zustand nicht verschlechtert.“
Tipps für Eltern von Kindern mit Behinderung
- Am konkreten Beispiel einer Familie mit einem schwerbehinderten Kind fasst die Stiftung Warentest sehr gut alles für den Einstieg in das Thema zusammen. Welche Behörde ist für was zuständig, welche Pflegesätze gibt es, wo tauchen in der Praxis öfter Widerstände auf und wie lassen die sich bewältigen.
- Die Vereinigte Lohnsteuerhilfe e. V. verweist auf zahlreiche Steuervorteile für Eltern von Kindern mit Behinderung.
- Durch das Bundesteilhabegesetz gibt es seit 2018 „ergänzende unabhängige Teilhabeberatungsstellen“ (EUTB). Diese Beratungsstellen arbeiten unabhängig von den Kostenträgern und beraten zu Förderungsmöglichkeiten, Anträgen, Zuständigkeiten im Dschungel der unterschiedlichen Leistungsträger, aber auch in Fragen medizinischer Reha-Maßnahmen sowie Frühförderung, Schulen und späterer Berufsausbildungsmöglichkeiten.
- Der Bereich Kindergesundheit im Rahmen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ist eine weitere gute Hilfe.
- Der Familienratgeber der Aktion Mensch bietet eine sehr gute Erstinfo für Eltern von Kindern mit Behinderung oder Erkrankung. Hier findet man übrigens auch die wichtigsten Informationen zu Covid-19 in leichter Sprache und Gebärdensprache.
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